Willkommen in Great Breltain!

CN: Milder Spoiler für „Belladonna“ von Adalyn Grace

Passend zum Herbst möchte ich eine Beobachtung teilen, die ich besonders im Bereich Gothic gemacht habe, aber die mir auch in anderen Genres teilweise untergekommen ist. Diese Beobachtung ist sowohl Setting als auch Trope und schmälert mein Lesevergnügen teilweise ungemein.

Nach dem Namen dieses Setting in dem Roman „The Death of Jane Lawrence“ (Caitlin Starling, 2021) nenne ich es Great Breltain.

Great Breltain ist nicht einfach nur ein vom viktorianischen England inspiriertes Setting, wie man es beispielsweise in Steampunk findet, oder mit Fantasy angereicherte alternative Geschichte wie etwa in „Blood Rose Rebellion“ (Rosalyn Eves, 2017) oder „Shades of Milk and Honey“ (Mary Robinette Kowal, 2010, hier allerdings mit einem Regency-Hintergrund). Es ist nicht einmal einfach schlecht recherchierte Histo mit phantastischen Elementen.

Nein, Great Breltain ist ein Setting, das sich, obwohl es reine Fantasie ist, selbstbewusst als das viktorianische England ausgibt – seltener auch als andere Zeiten und Länder. Bei zahllosen Büchern wurde entweder direkt behauptet oder zumindest impliziert, dass sie im viktorianischen England spielen: Nicht nur „The Death of Jane Lawrence“ (Auf Goodreads getaggt als „Historical Fiction“, beschrieben als „[s]et in a dark-mirror version of post-war England“) wurde so vermarktet oder vorgestellt, sondern auch beispielsweise „The Path of Thorns“ (A.G. Slatter, 2022; auf Goodreads getaggt als „Historical Fiction“), „The Binding“ (Bridget Collins, 2018; auf Goodreads getaggt als „Historical Fiction“) oder „Belladonna“ (das direkt angibt, 1853 zu spielen; Adalyn Grace, 2022).

Was ist das Problem mit Great Breltain?

Ja, ich empfinde den Great Breltain-Trope durchaus als Problem und sehe keinen guten Grund, ihn zu verwenden. Das liegt zum einen daran, dass er generell in einem faulen, flachen Setting resultiert. Scheinbar gilt trotz allem die Devise: „Es muss nicht historisch plausibel sein, schließlich ist es Fantasy!“

Recherche wird dabei klein geschrieben. Stattdessen werden willkürlich verschiedene moralische Ansichten, Erfindungen, Umstände etc. aus mehreren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts oder gar mehreren Jahrhunderten zusammengeworfen, ohne dass berücksichtigt wird, woher die kamen und wie sie sich gegenseitig beeinflusst haben. Diese werden dazu auch noch mit Mythen und Halbwissen vermengt. Dabei zeigt sich, was ich schon in meinem Artikel „Write What You Love“ angesprochen habe: Für das Zeitalter wird gar keine Liebe gezeigt, nur für eine vage, oberflächliche Idee davon. Wozu also das Ganze?

So will zwar „The Death of Jane Lawrence“ an „post-war England“ erinnern, welcher Krieg jedoch gemeint ist, wird nicht gesagt. Die erwähnten Luftangriffe legen mindestens den ersten, wenn nicht den zweiten Weltkrieg nahe. Jane ist jedoch positiv überrascht darüber, dass es im Haus ihres neuen Ehemanns Gaslicht gibt, was den Anfang des 19. Jahrhunderts impliziert.

Entsprechend machen viele der Konfliktpunkte keinen Sinn: In „Belladonna“ sucht die Protagonistin verzweifelt einen reichen Ehemann und erzählt ständig, dass junge Damen dies und das nicht dürfen, obwohl sie selbst eine reiche Erbin ist und die angeblich verbotenen Dinge das in Wahrheit nicht waren, z.B. eine Apotheke besuchen. In „The Path of Thorns“ ist die Protagonistin eine Hexe und läuft damit angeblich Gefahr, am Scheiterhaufen verbrannt zu werden, obwohl das in England zuletzt 1727 passiert ist.

Hier von historischer Fiktion zu sprechen, die im viktorianischen England spielt, macht also etwa so viel Sinn wie vom „Herrn der Ringe“ zu behaupten, es spiele im mittelalterlichen England.

Fake History

Dadurch, dass diesen Büchern jedoch das Histo-Label aufgedrückt wird, besteht die starke Gefahr der Geschichtsklitterung. Tatsächliche Fakten werden manipuliert, teilweise gefährliches Halbwissen, das durch die allgemeine Medienlandschaft irrt, dagegen propagiert. Immer, wenn Geschichte verfälscht wird, wird damit auch unser kollektives Gedächtnis angegriffen sowie auch die ganze Disziplin der Geschichtswissenschaft: Historikerin und Buchansichten-Autorin Kat Morris kann euch ein Lied davon singen, wie oft ihr auf eine Richtigstellung historischer Fakten hin gesagt worden ist: „Ja aber das ist deine Meinung, meine ist wie folgt!“, „Nein, man weiß, dass das so ist!“, „Ich habe das aber in diesem und jenem Film/Buch/amateurhaften Blogbeitrag/Youtube-Video anders gelernt!“ und ähnliches. Dass Schaden bereits angerichtet ist, liegt also auf der Hand.

Kat hat auch bereits eloquenter zusammengefasst, wie viele Unwahrheiten Menschen über das 19. Jahrhundert zu wissen glauben, als ich hier auf die Schnelle könnte.

Der dritte Grund, aus dem ich den Great Breltain Trope kritisch betrachte, liegt meiner Meinung nach auch in einem der Gründe, wieso er angewandt wird: Er dient häufig hohlem Moralisieren, das oft in unangenehme Richtungen geht. „The Path of Thorns“ will offenbar etwas Tiefgründiges über Frauengeschichte aussagen, schießt dabei jedoch mit seiner Message von „Relativ privilegierte, abled, nichtqueere Frauen leiden zu jeder Zeit am allermeisten“ und „Alle schlauen weiblichen Hexen sind gut, alle dummen männlichen Ärzte sind böse“ nicht nur weit über das Ziel hinaus und hat historisch gesehen schlicht und ergreifend objektiv Unrecht, sondern begibt sich auch noch in TERF-Rhetorik. Noch deutlicher wird das bei „The Betrayals“ (Bridget Collins, 2020), das direkt Bioessentialismus auftischt. Oder ungute Tropes werden durch das implizierte „Das war damals eben so“ quasi entschuldigt, wie das Grooming der Protagonistin durch ihren Love Interest in „Belladonna“, oder dass man mit einer heterosexuellen Frau Mitleid haben soll, wenn sie homofeindliche Gewalt begeht, wie in „The Binding“.

Daher ist es besonders für Autor*innen, aber auch Verlage, Lesende etc., wichtig, klarzustellen, wobei es sich um historische Romane und wobei um reine, historisch inspirierte Fantasy handelt. Dass dabei keine Grenze mehr gezogen wird, ist nur ein weiteres Symptom des Antiintellektualismus, der in den letzten Jahren um sich greift. Bestenfalls hat man einfach ein faules Setting voller vertaner Chancen vor sich – schlimmstenfalls ein geschichtsklitterndes Vehikel für gefährliche und schädliche -ismen.

Lest dazu auch den Artikel von Kat Morris „Historiografische Metafiktion„.

Nutzt du den Artikel für deine eigene Recherche? Vergiss nicht, ihn als Quelle anzugeben.

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