Immer häufiger, wenn ich deutsche Romane für Erwachsene aufschlage, lese ich darin solche Schilderungen: „Sarina spürte Zorn in sich aufsteigen. Grimmig ballte sie die Hand zur Faust und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Ihr Herz klopfte in einem schnellen, gereizten Rhythmus.“ Ja, ja, ich verstehe, Sarina ist sauer. Das Beispiel ist natürlich übertrieben, aber nicht viel, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass solche dick aufgetragenen, vorgekauten Textstellen, die keine Interpretation, kein Mitdenken mehr erfordern, mittlerweile vielfach von Verlagen gefordert werden. Ebenso sollen lange bzw. Fremdwörter oftmals gestrichen und Sätze insgesamt einfach gehalten werden.
Nun ist Literatur, auch Unterhaltungsliteratur, ja traditionell ein Vehikel zur Wiedergabe und Förderung kultureller und gesellschaftlicher Werke, und entsprechend beobachte ich diese Entwicklung mit Sorge.
Ableismus und Klassismus
Gerne werden Minderheiten vorgeschoben, so sei es ableistisch und klassistisch, Schachtelsätze zu schreiben oder Fremdwörter in Texten zu verwenden. Als mehrfach schwerbehinderte Person, die in extremer Armut aufgewachsen ist, machen solche Aussagen mich wütend, denn sie implizieren, dass sozial schwache oder Menschen mit Behinderung nicht willens oder in der Lage wären, dazuzulernen. Wir haben, genau wie wohlhabendere und abled Menschen, das Internet und die Fähigkeit, es zu nutzen – etwas, was man von den meisten erwachsenen Menschen meiner Meinung und Erfahrung nach durchaus erwarten kann. Zu sagen, dass wir das inhärent nicht könnten oder wollten, ist meiner Meinung nach deutlich ableistischer oder klassistischer als ein paar Fremdworte in einem Text, die ich eventuell nicht kenne und also erst nachschlagen und etwas dazulernen muss.
Noch dazu ist schlicht und ergreifend nicht jedes Buch für jeden: Läse ich einen Roman über einen Astrophysiker, bei dem die ganze Zeit mit Fachbegriffen aus diesem Bereich um sich geworfen würde, und verstünde ich das Buch also nicht problemlos, würde es das nicht zu einem schlechten oder klassistischen Buch machen. Es würde es einfach zu einem Buch machen, das nicht für mich ist. Wo zieht man also die Grenze? Muss man jedes Buch auf einem Niveau schreiben, dass es auch ein Grundschulkind verstünde? Sollte man geschriebene Sprache ganz abschaffen und nur noch Bilderbücher herstellen?
Anspruchslose Unterhaltung?
Ähnliches sehe ich auch bei der Rezeption von Büchern: „Ist doch egal, dass das Buch voller Ungereimtheiten ist! Ist doch egal, dass es schlecht recherchiert ist! Nimm das nicht so ernst, das ist doch nur ein Unterhaltungsroman! Wenn du eine negative Rezension schreibst, ist die Autorin traurig, mit der ich eine parasoziale Beziehung führe, und deswegen ist es nicht okay!“ Und aus diesen schlecht geschriebenen, schlecht recherchierten Büchern folgt dann aber leider: „Weiß ich besser, habe ich in diesem Roman so gelesen!“ Di*er Durchschnittsleser*in kennt sich nun mal nicht mit dem alltäglichen Leben der alten Römer, der Anatomie von Hirschkäfern oder eben Astrophysik aus und glaubt dann natürlich dem*der Autor*in, was si*er darüber zu erzählen hat. Und wozu das führen kann, habe ich ja in meinem „Great Breltain“-Artikel schon angesprochen.
Verwandt damit ist die Ansicht, dass anspruchslose Unterhaltungsromane irgendwie „genauso gut“ wären wie intellektuelle E-Literatur, was einfach nicht stimmt. Natürlich steht es jedem Menschen frei, zu lesen, was si*er gerne möchte. Natürlich ist ein Mensch nicht dümmer oder irgendwie weniger wert, nur weil er lieber die neueste Familiensaga liest als Kafka. Aber Lesen ist nicht automatisch ein intellektuelles Hobby und die urdeutsche Ansichtsweise von „Hauptsache, si*er liest überhaupt“ ist leider auch eine Binsenweisheit. Es ist einfach nicht wahr, dass besagte Familiensaga den gleichen literarischen Gehalt hat wie Kafka, dass eine fluffige New Adult-Romance genauso intellektuell ist wie Kim de l’Horizons „Blutbuch“.
„Aber mir ist das zu langweilig!“
Und das ist das Problem. Nicht, dass irgendwer Kafka oder das „Blutbuch“ nicht lesen will oder nicht mochte, das ist mir egal und ist jedermenschs gutes Recht. Es geht darum, dass Bildung im Allgemeinen als etwas dargestellt wird, was nur spießige Langweiler fordern. Es geht darum, dass Leute selbstgerecht sagen: „Honhonhon, mir ist es ja viel wichtiger, dass Bücher unterhaltsam sind, als dass sie anspruchsvoll sind!“, als wäre das ein inhärenter Widerspruch. Es geht darum, dass alle nicken, wenn das alte „Die Vorhänge waren fucking blau“-Meme gezeigt wird.
Es geht darum, dass Profis auf ihren Fachgebieten, Menschen, die etwas studiert haben, zu elitären Feind*innen stilisiert und in den Kontrast mit den armen finanziell benachteiligten und Menschen mit Behinderung, die unmöglich Fremdwörter verstehen können, gesetzt werden und Wissen, Begriffe und Definitionen gemein gatekeepen. (Als könnten finanziell benachteiligte und Menschen mit Behinderung nicht selber studiert und hochgebildet sein, hallo nochmal, Ableismus und Klassismus.)
Exakt das ist die Narrative von Menschen wie z.B. dem Pseudoarchäologen Graham Hancock, Macher der Netflix-Serie „Ancient Apocalypse“, der sich als den armen, aber brillanten Underdog im Kontrast zu fiesen, überheblichen echten Archäologen wie Flint Dibble darstellt, die seine Thesen und Aussagen widerlegen. Auch während der Pandemie haben wir dieses Phänomen vielfach beobachten können: Von Narrativen, dass Mikrochips in der Impfung wären bis dahin, dass eine Wurmkur für Pferde eine gute Behandlung sei, haben wir das ganze Spektrum vom Herabsetzen von Wissenschaft und dem unbotmäßigen Erhöhen der Meinung von Menschen, die keine Ausbildung in dem Bereich haben, gesehen.
Siehe auch: Die schamlose Nutzung generativer AI wie ChatGPT, um Texte, und Midjourney, um Bilder zu generieren, und dann den Anspruch haben, dass das genauso gut wäre, wie diese Werke selbst geschrieben bzw. gemalt zu haben.
Und da sind wir nur kurz davor, wie die Nazis die von den (oft jüdischen) „Eliten“ ausgeübte Wissenschaft der Medizin verlacht und als „Schulmedizin“ herabgesetzt haben: Sie betrachteten dieses Feld als übermäßig rigide und dogmatisch und förderten stattdessen wissenschaftlich nicht belegte oder belegbare „ganzheitliche“ Konzepte (Jütte, 1996). Diese „ganzheitlichen“ Konzepte umfassten auch den „Volkskörper“ und daher die „Volksgesundheit“ und „biologische Reinheit“ als Ziele und dienten damit wegweisend für die Krankenmorde (Eckart, 2017). Zu sagen, dass dieses antiintellektuelle Denken harmlos wäre, ist also erwiesenermaßen falsch.
Wie komme ich von anspruchsloser Literatur auf die Nazis?
Der derzeitige Rechtsdruck in unserer Gesellschaft kann euch unmöglich entgangen sein. Und hier ist das Ding: Bildung ermündigt uns. In meinem Artikel „Bücher sind ästhetisch“ habe ich bereits darüber gesprochen, dass Literatur immer ein Ausdruck des Zeitgeistes ist, in dem sie entsteht. Dieses Herunterdummen von Literatur während einer Zeit des Rechtsdrucks ist kein Zufall.
Antiintellektualismus, also das Diskreditieren von Wissenschaft und Bildung, ist seit jeher ein Werkzeug rechter Regimes, um die Bevölkerung geistig zu entmündigen und zu manipulieren sowie Misstrauen vor der Wahrheit und denen zu schüren, die sie verbreiten. Antiintellektualismus fördert die für Faschismus essentielle „Wir gegen die“-Dynamik, indem er das „einfache Volk“ und dessen vermeintlich bodenständige Weisheiten über die „Eliten“ und deren wissenschaftlich belegbare Bildung stellt – auch im Kontext der jeweiligen Sprache derselben. Wer Quellenkritik für überflüssig erklärt und diejenigen, die sie betreiben, zu Spaß verderbenden und Informationen regulierenden, abgehobenen Angebern, der will Menschen mundtot machen, die eine Gefahr für seine faschistischen Ansichten sein könnten (Stanley, 2018).
Bei den Bücherverbrennungen der Nazis waren unzählige intellektuelle Werke unter den „schädlichen und unerwünschten Schriften“. Sprache in Büchern wurde bewusst vereinfacht, um an „volkstümliche“ Redeweise angelehnt zu sein, die „Wir gegen die“-Dynamik zu untermauern und natürlich auch, um nuanciertes und kritisches Denken möglichst zu vermeiden – um die Bevölkerung daran zu gewöhnen, eingelullt zu sein und nichts zu hinterfragen (Stanley, 2018).
Antiintellektualismus ist also in anderen Worten exakt, was die AfD, Donald Trump, Benjamin Netanjahu und andere Leute wie sie sich wünschen.
Lesen gegen die AFD
Ich glaube nicht daran, dass irgendetwas keine Macht hat, bloß weil es „nur“ ein Unterhaltungsroman ist. Es gibt kein „nur“. Alles, was Menschen konsumieren, hat irgendeinen Einfluss auf sie, und sei er noch so gering. Achte darauf, was du liest, und wenn du schreibst, achte darauf, wie du es schreibst. Wenn er wüsste, dass du nur auf Grundschulniveau verfasste, seichte Romane mit simpelster Wortwahl liest, sie aber mit Hesse und Goethe gleichsetzt und auf Social Media regelmäßig Beiträge likest, die Intellektualismus, höhere Bildung und Bitten um Anspruch in Medien denunzieren, würde sich Björn Höcke grinsend die Hände reiben, in die du ihm damit genau spielst.
Also: Es mag nervig sein, aber schlag das verdammte Fremdwort nach und überlege, warum die Vorhänge blau sind, egal ob du nur liest oder auch selber schreibst. Gegen Faschismus. Gegen die AfD.
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Quellen:
Eckart, W.U. (2017). Medizin in der NS-Diktatur: Ideologie, Praxis, Folgen. Böhlau
Jütte, R. (1996). Geschichte der alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. Beck
Stanley, J. (2018). How Fascism Works: The Politics of Us and Them. Atria