Mittlerweile hat sich der Begriff Cottagecore vor allem in Online-Communities eingebürgert. Er steht für eine Ästhetik, die Bilder von weißen Sommerkleidern, märchenhaften Blumengärten und nostalgischem Landhaus-Chic vor dem inneren Auge hervorruft, und für einen Trend der frühen 2020er Jahre, der sich am besten als Romantisierung des ländlichen Lebens beschreiben lässt. Dass der Höhepunkt der Beliebtheit von Cottagecore auf die ersten Pandemiemonate fällt, ist kein Wunder: Während der Covid-19-Lockdowns, als viele Menschen den Großteil ihrer Zeit daheim verbrachten, rückten häusliche Tätigkeiten als Hobbies wieder in den Fokus. Vor allem selbstgebackenes Brot und ein neues Interesse an Handarbeiten wie Nähen oder Häkeln waren erst Freizeitausgleich und bald darauf ein rasant um sich greifender Trend.
Rückkehr zu den Wurzeln
Viele Menschen verstehen die Cottagecore-Bewegung als eine Rückkehr „zu den Wurzeln“ oder zu alten Traditionen, doch im Kern der Ästhetik, der bald ein Lifestyle wurde, steckt vor allem auch das neue Streben besonders jüngerer Generationen nach klimafreundlichen und nachhaltigen Lebensweisen und nach einem „einfacheren“ Leben abseits großer Städte, Arbeitsstress und modernen Konventionen. Wirklich neu war Cottagecore als Bezeichnung und als Online-Ästhetik jedoch 2020 nicht: Der Begriff und die dazugehörige Ästhetik lassen sich, ähnlich wie der verwandte Dark-Academia-Trend, bis in die frühen 2010er Jahre zurückverfolgen, als vor allem die Social-Media-Plattform Tumblr von Vaporwave bis Pastel Core trendige Aesthetics hervorbrachte.
Mögen der Begriff Cottagecore und das feste Zusammenfassen genau dieser Bestandteile zu einer Ästhetik noch recht jung sein, das Konzept dahinter ist es nicht: Der Wunsch nach einem einfacheren, naturverbundeneren Leben zieht sich wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte und bestimmt vor allem in schwierigen Zeiten kulturelle und gesellschaftliche Trends. Das wohl beste Beispiel ist die Pastorale, die in der bildenden Kunst ein idyllisches, ländliches Motiv meint, meist geprägt von romantisierten Darstellungen des ländlichen Lebens, spezifisch Hirt:innen- und Schäfer:innen-Szenen. Besonders beliebt wurden nicht nur pastorale Malereien, sondern auch ein pastoraler Lebensstil gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Europa von politischen Unruhen gezeichnet war. Die Flucht in Träumereien vom idyllischen Leben auf dem Land abseits von allem Schrecklichen und den sozialen Erwartungen und Konventionen des modernen Lebens verlockt also schon lange.
Trend und Ästetik
Dieser Trend zieht sich auch durch die Romantik- und Biedermeierperioden der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die die Natur und das ländliche Leben als Gegenentwurf zur schmutzigen Stadt und der Industriellen Revolution (erneut) neu entdecken, und zeichnet sich auch, unter anderem, um 1900 im Jugendstil ab, dessen Pflanzen- und Naturmotive in der Bildenden Kunst, in der Mode oder auch in der Architektur legendär wurden. Natürlich wirkte sich dieser Wunsch, nein, dieses Verlangen nach dem Pastoralen auch damals nicht nur auf die bildende Kunst aus, sondern auch auf die Literatur, in der das Motiv der idyllischen Landschaft und des Landlebens als Erlösung vom Druck moderner Konventionen immer wieder an Beliebtheit gewann, besonders in politisch oder wirtschaftlich schwierigen Perioden, in denen der Wunsch nach Idylle und Ruhe laut wurde.
Cottagecore als Begriff oder als Ästhetik mag demnach also erst knapp zehn Jahre alt sein, doch der Wunsch, der sich dahinter versteckt, ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Nicht umsonst lässt sich die pastorale Poesie bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Als Literaturklassiker des neu gefassten Genres Cottagecore gelten heute jedoch vor allem „Anne auf Green Gables“ (1908) von Lucy Maud Montgomery und „Der geheime Garten“ (1911) von Frances Hodgson Burnett. Beide sind durch und durch Cottagecore im moderneren Sinn, denn die ästhetische Symbolik von idyllischen Landschaften, romantischen Gärten und der Natur als Zufluchtsort steht hier im Mittelpunkt. Aus dem deutschsprachigen Raum ist „Heidi“ (1880) von Johanna Spyri zu nennen.
Ankommen im Mainstream
Kehren wir ins 21. Jahrhundert zurück, lässt sich beobachten, dass Cottagecore als Mainstream-Trend langsam aber sicher neuen Trends weicht. Zurück bleibt jedoch eine Community, die sich nicht nur der Ästhetik, sondern auch dem Lifestyle Cottagecore verschrieben hat und die sich vor allem online in immer neue, spezifische Ästhetiken aufsplittert. Von Farmcore und Fairycore über die skurrileren Spielarten wie Frogcore oder Gremlincore bis hin zu einem düstereren Blick auf den Trend als Dark Cottagecore oder sogar Cottagegore („gore“, also „Blut“, statt „core“), das Cottagecore-Ästhetik mit Horror verbindet.
Als ästhetischer Mode- oder Einrichtungstrend mag Cottagecore langsam abflauen, doch spezifisch als Literaturgenre wird es uns noch eine ganze Weile begleiten – Das hat es, unter anderen Namen, schließlich schon immer. Eine interessante Entwicklung der 2020er Jahre ist vor allem ein Öffnen des Genres für Own-Voice-Stimmen, die Cottagecore-Ästhetik und -Symbolik nutzen, um über die Lebensrealitäten marginalisierter Menschen zu schreiben, zum Beispiel in „Flowerheart“ (2023) von Catherine Bakewell, „This Poison Heart“ (2021) von Kalynn Bayron oder „Wild Beauty“ (2017) von Anna-Marie McLemore.
Quellen:
Bowman, Emma (2020). The Escapist Land Of Cottagecore. From Marie Antoinette To Taylor Swift.
Brand, Leah (2021). Crafting Cottagecore : Digital Pastoralism and the Production of an Escapist Fantasy.
Gifford, Terry (2013). „Pastoral, Anti-Pastoral, and Post-Pastoral“, The Cambridge Companion to Literature and the Environment.
Waller, Mason M. (2022). The History, Drivers, and Social Issues of the Cottagecore Movement.