„So ist das nie passiert“ von Sarah Easter Collins – meisterhaftes Storytelling trifft emotionale Kindheitserinnerungen

CN für den Roman: Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt, Gaslighting

Der Debütroman von Sarah Easter Collins hat es wirklich in sich. In „So ist das nie passiert“ bekommen wir einen Eindruck in die  Verlässlichkeit unserer Kindheitserinnerungen – und das sowohl auf theoretischer Ebene als auch anschaulich demonstriert durch die Erlebnisse von Willa. Willas Schwester Laika verschwindet im Alter von 14 Jahren. Warum, wohin, wie genau? Niemand kann es sagen und alle Spuren verlaufen im Sand. Willa, vom Fehlen ihrer Schwester, dessen Umständen und einem aufdringlichen Pressemob völlig verstört, widmet heimlich ihr Leben der Suche nach Laika. Bis sie zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden auf einer Dinnerparty eine Frau trifft, die sie für ihre verlorene Schwester hält.

„So ist das nie passiert“ Sarah Easter Collins, erschienen Juni 2024, Heyne

In einer der Schlüsselszenen des Romans wird Willa darauf hingewiesen, dass sich unsere Erinnerungen in zwei Teilbereiche unterteilt – das explizite und das implizite Gedächtnis. Das implizite Gedächtnis wird verwendet, wenn Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, bei Handlung X eine Rolle spielen, aber keine bewusste Erinnerung an diese Erfahrung wachgerufen wird (Mecklenbräuker & Frings, 2022). Das explizite Gedächtnis stellt Bezüge zu beabsichtigten, bewusst erfahrenen Begebenheiten her (vgl. ebd.). Das ist deswegen an dieser Stelle so wichtig, weil Willa (und auch andere anwesende Personen) diese beiden Bereiche durcheinanderwerfen, als sie gebeten werden, von ihrer frühsten Kindheitserinnerung zu berichten. Teilweise werden Situationen geschildert, die in die erste Kategorie fallen, also keine konkreten Erinnerungen sind, sondern eher ein Gefühl, eine generelle emotional geprägte Wahrnehmung der eigenen Kindheit widerspiegeln.

„Frühe Erinnerungen können wir in zwei Arten einteilen: explizite und impizite. Eine explizite Erinnerung erfordert das Abrufen spezifischer Zeitpunkte, Orte, Ereignisse. Deine zähle ich auch dazu, Michael. Die Details sind klar und deutlich und zugegebenermaßen, was du beschrieben hast, ist genau so ein großes, einmaliges Ereignis, das einem Kind im Gedächtnis bleiben würde. Robyn, Jamie, Willa, ihr schildert implizite Erinnerungen: unbewusste, emotionale Sinneswahrnehmungen, die ihr euch bewahrt habt. Sie sind mehr eine Verschmelzung eurer gesamten frühen Kindheitseindrücke als Erinnerungen an konkrete Ereignisse …“ (So ist das nie passiert, Seite 55)

Für den Fall einer vor 20 Jahren verschwundenen Person, nach der Willa immer noch auf der Suche ist, ist es aber enorm wichtig, einordnen zu können, was wirklich passiert ist, und was vielleicht gar keine bewusste Erinnerung darstellt.

Und -das- ist der Aspekt, mit dem der Roman von Sarah Easter Collins meisterhaft spielt. Im Laufe der Kapitel, die aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben sind, erfahren wir Schritt für Schritt, was wirklich mit Laika geschehen ist. Aus der naiven Sichtweise von Willas bester Freundin entsteht dabei ein ganz anderes Bild als das von Willa selbst, die bestimmte Situationen teilweise dramatischer und emotionaler erlebt hat.

Seite für Seite wird in „So ist das nie passiert“ ein Bild von verschiedenen Familienleben, von Missbrauch, von Zusammenhalt und Freundschaft geschildert, das mich so manches Mal hat schwer schlucken lassen. Mehr als einmal habe ich erwartet, jetzt wirklich alles über die Beziehungen zwischen den Figuren erfahren zu haben, da kam der nächste Hammer um die Ecke. So ein geschicktes Spiel mit Perspektivenwechseln habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Dabei ist vor allem bemerkenswert: In den Rückblenden wirken die Berichte oft nüchtern-sachlich, fast kalt. Die erinnernden Personen haben ihre Narrative abgeschlossen formuliert und sind nicht mehr emotional involviert. Dadurch erscheinen selbst krasse, belastende Szenen oft kalt. Man fühlt sich mit seiner Empörung stehen gelassen, weil der/die Erzähler*in nicht mitgeht. Ich LIEBTE diesen Effekt. Generell ist das Perspektivspiel wirklich eines, das die Autorin meisterhaft beherrscht, ich war sehr begeistert.

Der einzige Kritikpunkt, den ich habe: Die Figuren bleiben bis zum Ende durch genau diesen Abstand zu emotionalen Szenen eher flach. Ein richtiges Profil hat man von allen erst, nachdem die Geschichte erzählt ist und alle auch mal impulsiv und emotional werden durften. Das fand ich etwas schade, ist aber wohl bei dieser Erzählstrategie auch nicht so richtig vermeidbar.

Alles in allem: Eine spannende Mischung aus biografischer Erzählung und einem Thriller, die mich sehr gepackt hat, und die ich stellenweise gar nicht beiseite legen konnte. Ein fantastisches Debüt – ich bin schon sehr gespannt, was wir von dieser Autorin als nächstes lesen dürfen!


Quellen:

Mecklenbräuker, S. & Frings, C. (2022). Gedächtnis, implizites. In: Wirtz, M. A. (Hrsg), Dorsch – Lexikon der Psychologie, Bern: Hogrefe.

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