Am 29. Mai 1913 wurde im Théâtre des Champs-Élysées in Paris das Ballett „Le sacre du printemps“ oder „Der Frühlingsritus“ (Igor Stravinsky) uraufgeführt. Im Kontrast zu anderen Balletten dieser Zeit umfasste es tonale Dissonanzen und untypische Tanzschritte und Figuren. Die Choreographie war dramatisch und unvergleichlich.
Das Publikum schrie vor Empörung so laut, dass man das Orchester nicht mehr hören konnte.
Ganz Europa redete monatelang über das Ballett. Es wurde als primitiv und unkultiviert verrissen, seinen Kritikern wiederum snobistische Ignoranz vorgeworfen, Schuld wurde überall gesucht von der schlechten Darstellung des Primoballerino bis zum kulturellen Unterschied zwischen dem russischen Komponisten und Hauptdarsteller und dem französischen Publikum (Wikipedia, 2024).
Über 60 Jahre zuvor, im Jahr 1850, wurde in den Ausstellungsräumen der Royal Academy in London ein Gemälde des präraffaelitischen Malers John Everett Millais ausgestellt: „Christ in the House of his Parents“ oder „Christus im Haus seiner Eltern“, eine Darstellung Jesu als Kind, wie er in Josefs Schreinerei von seinen Eltern getröstet wird, weil er einen Splitter in der Hand hat.

Die Besucher der Ausstellung reagierten entsetzt über den dargestellten Realismus fern der typischen frommen Idealisierung.
Ein bekannter Kritiker des Werks war der Autor Charles Dickens, der den Jesus in dem Bild als „grässlichen, krummhalsigen, flennenden, rothaarigen Jungen“ bezeichnete und ihn bezichtigte, sich beim Spielen in der Gosse verletzt zu haben. Und Maria fand er „in ihrer Hässlichkeit so schrecklich“, dass sie sogar noch in der verkommensten Gin-Schenke Englands unangenehm herausstäche (Jeffrey Easby, 2019).
Was hat all das mit Literatur zu tun?
Ballett ist Kunst. Malerei ist Kunst. Und Literatur ist ebenfalls Kunst. Kunst entsteht niemals im leeren Raum, sondern ist immer eine Reaktion auf und ein Ausdruck von ihrem jeweiligen Zeitgeist, ob die Kunstschaffenden dies bezwecken oder nicht.
Auf diese Weise sind Bücher im engsten Sinne des Wortes ästhetisch. Das Wort „Ästhetik“ leitet sich vom altgriechischen Wort „aisthesis“ ab, was so viel bedeutet wie „sinnlich vermittelte Wahrnehmung“ (Brandstätter, 2013/2012). Es bezeichnet also nicht unbedingt etwas Schönes oder Angenehmes, sondern jede Art von Sinnesauffassung.
Einerseits ist Kunst insofern ästhetisch, dass sie eine Reaktion auf eine solche Wahrnehmung ist, wie auch immer diese sich gestalten mag – von romantischen und religiösen Themen bis hin zu Kriegen und Seuchen hat sich Kunst schon immer mit allem befasst.
Andererseits jedoch fungiert Kunst im Idealfall auch selbst als Auslöser solcher Wahrnehmungen – und diese können sich äußern in Freude, Verwirrung, Wut, Zufriedenheit, Ekel, Hoffnung, Traurigkeit, Spott, jedem anderen Gefühl und unendlich vielen Mischungen verschiedener Gefühle.
Kunst und Kritik sind immer ein Austausch. So, wie jeder Mensch das Recht hat, jede Kunst zu machen, die si*er gut findet, haben alle, der sich diese Kunst zu Gemüte führen, das Recht, jede Meinung, die sie dazu haben, auf jede Weise, die sie möchten, zu äußern. Diese Meinungen können dann wiederum darauf folgende Kunstwerke bilden, inspirieren und informieren, und der Kreislauf beginnt von vorne.
Dass das keinen Schaden tut, ist historisch gut belegt: So hängt „Christ in the House of his Parents“ heute im Tate, „Le sacre du printemps“ wird noch immer aufgeführt. Sie beide gehören zu den bedeutendsten Werken ihres jeweiligen Mediums. Negative Literaturkritik hat weder Nabokovs „Lolita“ (Boyd, 1991) noch James’ „Fifty Shades of Grey“ (Dowd, 2012) einen Abbruch getan, selbst verlachte Werke aus der untersten Schublade, wie „My Immortal“ können – wie der Titel suggeriert – unsterblich sein.
Niemand erwartet, dass Autor*innen Freudentänze aufführen, wenn sie negative Kritik erhalten. Aber Kritik, positive wie auch negative, ist ein Teil des Austauschs, auf den sie sich in dem Moment aktiv eingelassen haben, in dem sie ihre Kunst veröffentlicht haben. Und vielleicht hilft es ihnen, daran zu denken, dass negative Kritik immer auch ein Ausdruck dessen ist, dass ihr Buch im wahrsten, ursprünglichsten Sinne des Wortes ästhetisch ist, dass es etwas mit Menschen macht, die es lesen, sie irgendwie berührt, ihnen zumindest für eine Weile im Gedächtnis bleibt.
Das Gegenteil von ästhetisch ist anästhetisch.
Und wer möchte schon behaupten, ein Buch geschrieben zu haben, das als Anästhetikum wirkt?
Quellen:
Boyd, B. (1991). Vladimir Nabokov: The American Years. URL: https://archive.org/details/vladimirnabokova00boyd
Brandstätter, U. (2013/2012). Ästhetische Erfahrung. https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung
Dowd, M. (2012). She´s fit to be tied. URL: https://www.nytimes.com/2012/04/01/opinion/sunday/dowd-shes-fit-to-be-tied.html
Jeffrey Easby, R. (2019). Sir John Everett Millais, Christ in the House of His Parents. URL: https://www.khanacademy.org/humanities/becoming-modern/victorian-art-architecture/pre-raphaelites/a/sir-john-everett-millais-christ-in-the-house-of-his-parents
Wikipedia (2024). Le sacre du printemps. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Le_sacre_du_printemps